Obwohl „Titane“ erst die dritte Regiearbeit von Julia Ducournau ist, ist die Französin auf Festivals schon lange keine Unbekannte mehr. Fünf Jahre nachdem bereits ihr Langfilmdebüt „Raw“ in Cannes schockierte und das Kinopublikum spaltete, lief das neue Werk, das ebenso Konventionen aufbricht und Grenzen überschreitet, nun sogar im Wettbewerb und wurde überraschend mit dem Hauptpreis ausgezeichnet. Auch wenn der Film ebenso für Furore sorgte, versteckt sich hinter der skandalösen Fassade von „Titane“, von der man sich nicht einschüchtern lassen sollte, eine Familiengeschichte und die beängstigende Geburt von unbekannten Gefühlen.

von Madeleine Eger

Alexia (Agathe Rousselle) wird als kleines Mädchen bei einem Autounfall so schwer verletzt, dass ihr Schädel durch eine Titanplatte stabilisiert werden muss. Im Erwachsenenalter arbeitet die junge Frau als erotische Tänzerin bei Automessen, entwickelt eine gewisse Anziehung und Beziehung zu den großen metallenen PS-Monstern. Eine harte, tote Schale umgibt Alexia dabei, die innerlich aber anfängt zu brodeln, sobald man ihr mit Zuneigung begegnet. So verkompliziert sich die Begegnung mit einer anderen Frau und das elterliche Zuhause wird lediglich zu einem Ort aus Distanz und Kälte. Als Alexia dann wegen eines Mordes gesucht wird, gibt sie sich als Sohn von Vincent (Vincent Lindon) aus, der vor 10 Jahren verschwand. Auf der Suche nach Erlösung formt sich eine fragile Beziehung zwischen den beiden, die jedoch von Lügen und Geheimnissen begleitet wird.

Begleitet von Countrymusik windet sich die Kamera verführerisch durch einen ölverschmierten Motor. Erkundet dabei jeden Winkel des Herzstücks, das einem großen Haufen Blech Leben einhaucht. Hinter dieser Szenerie verbirgt sich aber nicht etwa eine Bewunderung für Technik, vielmehr erörtert Julia Ducournau damit die Thematik ihres dramatischen Sci-Fi-Thrillers. Hier ist es kein Zitat, sondern der Songtext des „Wayfaring Stranger“, der offenbart, dass die Regisseurin totes und kühles Metall als Bildsprache verwenden wird, um dieses in einen sehr menschlichen Kontext und Subtext zu übertragen.

Zunächst beginnt „Titane“ aber noch recht strukturiert und zeichnet ein ziemlich klares Bild von einer zerrütteten Familie, wo der desinteressierte Vater in seiner eigenen Blase zu leben scheint und keine Gefühlsregung preisgibt. Auch Alexia zeigt sich sehr gefühlskalt, grob und unbeholfen. Verfangene Haare in einem Piercing werden da mal eben mit einem beherzten Ruck entfernt, und ein Verehrer hat sich das Treffen mit ihr sicher auch ganz anders vorgestellt, als später leblos auf der Rückbank zu landen. Regisseurin Ducounau schont schon in den ersten Minuten ihr Publikum kaum, denn wenn ihre Protagonistin nur noch in Extremen fühlen kann, so soll das eben im Saal auch spürbar sein.

Alexia, die Emotionen also erst einmal nur in abstrakten und brutalen Situationen erlebt, muss im Verlauf der Geschichte und mit Entwicklung einer völlig neuen Vater-Kind Beziehung ganz neu lernen, was Akzeptanz, Zuneigung und vor allem Liebe bedeutet. Starke Gefühle, die ihr Angst machen, sie innerlich zerreißen. Um diese Entwicklung und die Veränderung genauso spürbar und regelrecht erlebbar zu machen, lässt die Regisseurin ihre Protagonistin durch eine ungewollte Schwangerschaft gehen, die natürlich auch alles andere als normal ist. Viel zu schnell wächst das unheimliche Ding in Alexia, das vor Vincent aber unbedingt versteckt werden muss, wenn sie sich weiter als dessen wiedergewonner Sohn ausgeben will. Das führt dazu, dass Alexia (die sich fortan fließend zwischen den Geschlechtern bewegt) versucht, ihren wachsenden Unterleib in sich hineinzupressen. Die Schmerzen, die das Prozedere mit sich bringt, fängt die Regisseurin in beeindruckend drastischen wie verzweifelten Bildern ein und bringt das Publikum damit immer näher an Alexia und ihre Gefühlswelt.

Ähnliches geschieht auch mit Vincent. Der alternde Mann hadert mit seinem Alter, dem Verfall, der ihm ins Gesicht geschrieben zu sein scheint und unter dessen Haut Hoffnungslosigkeit und Trauer vor sich hin modert. Ducournau porträtiert auf ganz unterschiedliche Weise zwei Seelen, die Veränderung nur schwer akzeptieren können und nicht darauf vorbereitet sind, mit welcher Wucht sie diese neue Familienkonstellation treffen wird.

Gestalterisch greift die Regisseurin dabei nicht nur auf dramatische wie unerwartete und schonungslose Bilder zurück. Auch die Farb- und Kontrastgestaltung ist in „Titane“ so markant wie aussagekräftig. Oft in kräftigem Orange, das sich in der Dunkelheit seinen Weg bahnt, bekommen die Figuren eine Textur, die ihre Veränderung Stück für Stück ins neue Licht rückt. Eine Farbe, die für das Bauchgefühl steht, den Mut zur Veränderung und für Hemmungslosigkeit scheint dabei nicht ganz zufällig gewählt. Denn wo Alexia Sex mit einem Auto haben kann, Motoröl aus Körperöffnungen fließt und Gefühle zur wahrhaftigen Zerreißprobe werden, hat Ducournau schon lange alle Hemmungen hinter sich gelassen. Und das mit einer beeindruckenden Durchschlagskraft, die berührt und erschüttert, um am Ende etwas Wunderschönes zutage zu fördern.

Fazit

Schockierend schonungslos, dabei radikal mutig. „Titane“ liefert eine bemerkenswerte Bildsprache, die von Farben, Kontrasten und dem Soundtrack oft auf den Punkt genau akzentuiert wird. Agathe Roussell und Vincent Lindon spielen ihre Figuren dabei unglaublich nuanciert und machen „Titane“ zu einem der außergewöhnlichsten Filme über Liebe und Familie.

Bewertung

Bewertung: 9 von 10.

„Titane“ hat das SLASH-Filmfestival in Wien eröffnet, startet regulär in Deutschland am 7.10. im Kino und in Österreich am 4.11.

Bilder: © Stadtkino Filmverleih