Den Umständen geschuldet musste die französische Filmwoche 2020 noch auf die online Variante ausweichen. Dieses Jahr jedoch flimmert das Programm von fast 20 Filmen aus Frankreich vom 24.11.21 bis 1.12.21 über die Leinwände der Kinos, empfängt etliche Gäste und bietet dazu noch eine kleine Auswahl online an. Über zehn der gezeigten Filme feiern während der nunmehr zum 21. Mal stattfindenden französischen Filmwoche sogar ihre Deutschland- oder Berlinpremiere. Unter ihnen der neue Film von Paul Verhoeven „Benedetta“, „France“ von Bruno Dumont oder „Wo in Paris die Sonne aufgeht“ von Jacques Audiard, über den wir bereits vom Filmfest Hamburg berichteten konnten. Zusätzlich kann man sich auf eine Werkschau zu Leos Carax freuen. Neben seinen bisherigen 5 Werken hat der Publikumsspalter von Cannes „Annette“ einen Platz im Programm bekommen und bietet ein ganz besonderes ungewöhnliches Kinoerlebnis.

von Madeleine Eger

Auch Charline Bourgeois-Tacquets Langfilmdebüt „Der Sommer mit Anaïs“ feiert in Berlin seine Premiere und versprüht angesichts der herbstlichen Tristesse ein willkommenes Kontrastprogramm an der sommerlichen französischen Küste, das mit Leichtigkeit und lebenshungrigen Charakteren besticht und wo das Verlangen an den Figuren klebt wie der warme Sandstrand an nackter, feuchter Haut.

Anaïs (Anaïs Demoustier) ist 30 Jahre alt, im Begriff ihr Studium zu beenden, pleite, hoffnungslos chaotisch und immer auf der Suche nach dem Partner, mit dem sie die erhoffte Liebe teilen kann. Eigentlich hat Anaïs noch einen Liebhaber, dann lernt sie aber auf einer Geburtstagsfeier den sehr viel älteren Verleger David (Denis Podalydès) kennen und beginnt eine Affäre mit ihm. David hingegen ist mit der Schriftstellerin Emily (Valeria Bruni Tedeschi) liiert, die ganz plötzlich ebenfalls das Interesse von Anaïs weckt. Während einer Tagung lernen sich die beiden Frauen näher kennen und entfacht ungeahnte Neugier und Verlangen.

Ein wenig erinnert „Der Sommer mit Anaïs“ mit seinen verspielten und ausgelassenen Pianoklängen, die zu einer farbenfrohen und floralen Bilderauswahl den Raum erfüllen, an Luca Guadagninos „Call me by your Name“, der sein Publikum in den Sommer Norditaliens mitnahm. Während der Film allerdings deutlich gemächlichere Töne im weiteren Verlauf anschlug, strömt die Ruhelosigkeit und Hektik sogleich aus dem Bild, die die Hauptfigur Anaïs mit sich bringt. Die junge Frau hetzt durch die Straßen, um an ihrer Wohnung wenigsten noch halbwegs pünktlich die Vermieterin zu empfangen, die ihr nicht nur den Rauchmelder mitbringt, sondern sie auch auf den Mietausstand aufmerksam macht. Allein aus diesem Treffen heraus lässt sich die verplante, naive, umtriebige, aber irgendwie sehr herzliche Art von Anaïs ablesen. Die Worte sprudeln nur so aus hier heraus, und ehe sie es sich versieht, trägt sie ihr Herz auf der Zunge. Ähnlich ergeht es dem Paar, das die Wohnung während ihrer Abwesenheit bekommt. Ein Schwall an Beziehungsfragen prasselt ungefragt auf diese ein – dabei verstehen sie nicht mal ein Wort Französisch.

Diese Ruhelosigkeit, die Anaïs durch den Alltag trägt, fängt die Regisseurin dabei in kurzen, aber knackigen Plansequenzen ein, macht die Überschwänglichkeit, Lebenslust und scheinbar unermüdliche Energie förmlich greifbar. Zuweilen eröffnet es genau den überwältigenden Eindruck, den auch andere Menschen von dem Energiebündel bekommen. Sie ist jemand, die mit ihren Gedanken überall ist, jede Minute als die Beste des Lebens auszukosten versucht und Entscheidungen trifft, die egoistisch und sogar unbedacht oder voreilig wirken. So fühlt sich nicht nur ihr bisheriger Liebhaber Raoul (Christophe Montenez) von der Schwangerschaft und deren Abbruch völlig überrollt, auch als Zuschauer fühlt man sich durchaus von der ungezügelten Frau völlig eingenommen, ist wieder und wieder überrascht und zugleich ein wenig überwältigt von der Präsenz.

Erst als sich ein familiärer Schicksalsschlag offenbart, lässt die Regisseurin ihre Figur für kurze Augenblicke innehalten. Sofort merkt man: würde Anaïs öfter über ihr Leben und ihre Entscheidungen grübeln, würde sie vermutlich sehr viel schneller an Krisen zerbrechen. Von ihrer Rastlosigkeit lässt sie sich nicht abkehren, allerdings bewirkt dieser Moment eine spürbare Entwicklung für die Figur, die im Laufe des Sommers dann doch herausfindet, was sie will und wer sie selbst ist. Der Prozess kratzt auch hin und wieder an komischen Situationen. So nämlich, wenn sie ihr Missfallen von Charaktereigenschaften an Mitmenschen äußert, die sehr wohl sie selbst spiegeln. Als sie beispielsweise Daniel verlässt und meint, sie liebt Menschen, die wissen was sie wollen, spielt das vielmehr auf ihr eigenes Unvermögen an klar definieren zu können, was sie vom Leben erwartet.

Die Entwicklung von Anaïs und das intensive Erleben ihrer Gefühle kommt besonders durch die clevere Auswahl an Musik zum Vorschein, die die Regisseurin hier gekonnt mit ihren Bildern verwebt. Manchmal ist es ein Opernstück, das dem Treiben lassen im glitzernden Meer die Dramatik überstülpt, oder ein markanter 80er-Jahre Hit, der die Faszination und aufkeimende Zuneigung der beiden Frauen unmittelbar einfangen kann. Gerade nämlich als Anaïs und Emily sich näher kommen, entwickelt sich eine verzaubernde Neugier, bei der sich kleine, wunderschön zaghafte Gestiken offenbaren und uns genauso in den Bann ziehen und mitfiebern lassen.

Fazit

„Der Sommer mit Anaïs“ ist ein bezauberndes Porträt einer jungen Frau, bei dem die Musik sie auf eine Reise durch das Leben mitnimmt und sie immer mal anstößt, um sie innehalten zu lassen, damit sie herausfinden kann, wer sie ist. Ein charmantes Regiedebüt, das mit herzlichen Figuren aufwartet und die Leichtigkeit eines verführerischen Sommers zurückbringt.

Bewertung

Bewertung: 8 von 10.

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