„Du zahlst für eine Fantasie“. Welche Fantasie das sein soll? Darüber ist sich Nancy überhaupt noch nicht im Klaren, als sie den charmanten Sex-Arbeiter Leo in dem gebuchten Hotelzimmer empfängt. Ein Aufeinandertreffen von zwei Menschen, die in ihrem Leben ganz unterschiedliche Erfahrungen gemacht haben, Intimität erkunden und die gesetzten Grenzen ihres Gegenübers ein Stück weit zu Fall bringen.

von Madeleine Eger

Unter der Regie von Sophie Hyde, die bereits mit ihrem Film „Animals“ in Sundance Erfolge feierte, entstand an sehr wenigen Drehtagen ein theaterartiges Kammerspiel, in dem die Australierin erneut mit Scharfsinn und Fingerspitzengefühl auf die Bedürfnisse und Wünsche, sowie die verborgene Lust und das Verlangen ihrer Hauptfiguren eingeht. Gemeinsam mit Katy Brand, die das Drehbuch zu „Meine Stunden mit Leo“ schrieb, spickt Hyde die Geschichte mit herzlichen, rührenden und knisternden Momenten, die zum Mitfühlen einladen und sich behutsam an unentdeckte Emotionen herantasten.

Nancy (Emma Thompson), pensionierte Religionslehrerin und scheinbar unglücklich mit ihren Entscheidungen, die für über 30 Jahre ihr Sexleben bestimmten. Nach dem Tod ihres Mannes möchte sie nun Intimität und Sex neu entdecken und bestellt sich dafür einen Callboy. Dieser Callboy ist Leo (Daryl McCormack). Anfang 20, selbstbewusst, charmant, zuvorkommend und einfühlsam. Nancy, die mit Sexarbeit und der Frage nach ihrer Legalisierung lediglich in den Aufsätzen ihrer ehemaligen Schüler konfrontiert war, ist von der Offenheit Leos und dem entspannten Umgang mit seinem Wahlberuf schnell überfordert. Ihm gelingt es jedoch, Nancy zusehends herauszufordern und in ihr ein Gefühl zu wecken, das sie schon längst vergessen hatte. Eine Dynamik entsteht, in der die Entdeckung des Körpers und der Lust auch Macht mit sich bringt und die gemeinsamen Stunden experimentierfreudiger und überraschender werden lassen, bis einer der beiden gesetzte Grenzen ignoriert und das Verhältnis auf die Probe stellt.

Mit Kaffee am Tresen, noch vertieft in seine Aufzeichnungen, wirkt Leo in dem kleinen Café wie der typische Student, der gedankenverloren aus dem Fenster des Ladens sieht, ehe er sich nach einem Blick aufs Handy gut gelaunt und entspannt auf dem Weg zu einem Termin macht. Währenddessen steht Nancy in dem lichtdurchfluteten, hellgrauen Hotelzimmer, schaut ebenso gedankenverloren auf das große Bett und wagt sehr unsicher kaum einen Schritt durch das Zimmer. Zwei Szenerien, die unter beschwingten Beats zwei gegensätzliche Atmosphären aufbaut und uns innerhalb von Sekunden die zwei Charaktere näherbringt, die in wenigen Augenblicken aufeinandertreffen werden. Nancy klammert sich unendlich nervös an ihr Sektglas und als sie Leo die Tür öffnet und das Gespräch etwas holprig beginnt, sind die Zweifel, die Ängste und die Scham, die sie empfindet, für das Publikum unmittelbar spürbar.

Dabei ist die Wortwahl, die sich im folgenden Dialog wiederfindet, maßgeblich und mit Bedacht gewählt. Sie offenbart uns, was für Nancy auf dem Spiel steht und zugleich mit wie viel Unwissenheit und welchen Stigmas oder Restriktionen Sex, Sinnlichkeit, Verlangen und sexuelle Erfüllung vor allem für Frauen belegt sind, die nie den Mut aufbringen, offen darüber zu reden. Als Nancy nämlich davon spricht, „es endlich hinter sich zu bringen“, muss Leo sie immer wieder mit positiv belegten Begriffen korrigieren, die ihr scheinbar nur wenig vertraut sind. Hier zeigt sich schon nach wenigen Minuten das fantastische Zusammenspiel und die großartige Chemie des „Peaky Blinders“ Stars McCormack und der Schauspielgröße Thompson, die den gesamten Film alleine tragen und sich ausschließlich in ein und demselben Raum bewegen. Das Hotelzimmer wirkt durch den cleveren Einsatz von Licht und Kamerabewegung jedoch wie eine ganz eigene Welt, in der jede Ecke eine andere Stimmung in sich birgt.

Trotzdem nutzt Hyde gemeinsam mit ihrem Kameramann Bryan Mason nie die volle Größe des Raumes aus, sondern sucht aktiv die Nähe, um fortlaufend die aufblühende Vertrautheit zwischen ihren Charakteren einzufangen und das Publikum im Bann der Gefühle zu halten. So kann man einerseits Nancys Emotionen auf Schritt und Tritt folgen und ihre Regungen lebhaft nachvollziehen. Gleichwohl erfahren wir auch mehr über Leo, der immer wieder mit seiner charmanten Professionalität versucht von sich abzulenken, wenn Nancy zu sehr an seinem Privatleben interessiert ist. Dies führt später zu dem einzigen Wermutstropfen des bezaubernden Komödiendramas, das etwaige Erwartungshaltungen seines Publikums sonst mit Witz und Leichtigkeit gekonnt umschifft. Denn ein schwerer Vertrauensbruch endet zwar in einem bitteren Streit, worauf den beiden jedoch eine (fast schon zu einfache) Aussprache gewährt wird. Selbst wenn dies dramaturgisch nicht ganz gelungen ist, so ist am Ende ein großer Spiegel der Trumpf im Ärmel für Hyde, der den Film mit einem schönen (und, für viele vielleicht mutigen) Paukenschlag abrundet und den erzählerischen Ausreißer zur Nebensächlichkeit degradiert. Denn dieser ist für beide Figuren der stille Verräter und offenbart, was wohl auch jedem in gewisser Weise vertraut sein könnte: Man selbst ist immer der größte Kritiker, und das Spiegelbild zeigt einem schonungslos die Realität, die Zweifel und Narben der Vergangenheit. Es liegt an einem selbst wohlwollend mit sich und seinem Körper umzugehen und manchmal können sonst fremde Menschen die schönsten Veränderungen in einem bewirken.

Fazit

Zum Dahinschmelzen charmant, emotional und unglaublich sexy. Leos Versprechen am Anfang auf eine großartige Zeit sollte sich nicht nur für Nancy, sonder vor allem für die Zuschauerschaft bewahrheiten. Ein Film mit starken Gefühlen und viel Herz. Ab dem 14. Juli im Kino!

Bewertung

Bewertung: 9 von 10.

(89/100)

Bilder: © Wild Bunch Germany GmbH

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