„Was ist falsch daran, etwas zu jagen, das schön ist?“ , fragt der Junggebliebene Mittdreißiger Tom. Mit den eisblauen Augen, kurz geschorenen ergrauten Schläfen und durchtrainiertem Körper ist er dem gefallenen Pornostar Mickey Saber aus Sean Bakers Tragikomödie „Red Rocket“ nicht unähnlich. Beide Männer jagen keinem schönen Regenbogen hinterher, sondern schnellem, für sie leicht zu verdienendem Geld und sehr wahrscheinlich einem besseren Leben. Mit deutlich jüngeren Mädchen, die sie betören und gekonnt um den Finger wickeln können, sehen sie ihre Chance gekommen.

von Madeleine Eger aus Hamburg

Während Sean Baker sein Drama in den richtigen Augenblicken mit lebensnaher Situationskomik auflockert, seinen Film in süße, sonnige Naivität taucht und aus der Perspektive des alternden Erwachsenenfilmstars Mickey erzählt, nähert sich Jamie Dacks ihrer Geschichte mit vergleichbarer Geschlechterdynamik aus der Sicht einer 17-jährigen Highschool Schülerin. „Palm Trees and Power Lines“, Dacks Regiedebüt, das bereits in Sundance Premiere feierte und auf dem gleichnamigen Kurzfilm basiert, schließt sich inszenatorisch hingegen viel eher puristisch und hypnotisch realistischen Filmen wie „Niemals selten manchmal immer“ (Eliza Hittman) an. „Palm Trees and Power Lines“ wird ein ergreifend wie niederschmetterndes Porträt einer Beziehung mit falschen Absichten und versteckter Unterdrückung zeichnen, mit einem Schlussbild, das sich gegen jegliche Vernunft stemmt.

Für die 17-jährige Lea (Lily McInerny) sind gerade Sommerferien. Sonnenbaden, Make-up Tutorials, fernsehen, mit ihrer Freundin Amber (Quinn Frankel) abhängen oder alkoholgetränkte belanglose Treffen mit den Jungs aus ihrer Schule werden zur täglichen Routine. Von ihrer Mutter Sandra (Gretchen Mol) fühlt sie sich im Stich gelassen und vernachlässigt. Dann weckt eines Abends im Diner ein älterer Mann mit strahlend blauen Augen und bezaubernden Lächeln ihr Interesse. Als ihre Freunde die Rechnung prellen und Lea als Einzige erwischt wird, ist er es, der sie aus der Situation befreit. Besorgt und aufmerksam bietet Tom (Jonathan Tucker) an, sie nach Hause zu begleiten. Lea bekommt das Gefühl, sie wäre endlich jemandem begegnet, der sie zum Ersten Mal so richtig versteht, ihr zuhört und wirklich Interesse an ihr hat. Aus dem Flirt wird schnell mehr, doch Tom scheint nicht der zu sein, für den Lea ihn hält.

Über der Vorstadtszenerie Südkaliforniens liegt ein schwerer gelber Dunst. Staubig und erdrückend wirkt die Tristesse am Boden der hochragenden Stommasten unter denen Lea an manchen ihrer Tage umherstreunt und ihr Lieblingslied vor sich hin summt. Die Freiheit der Sommerferien eigentlich alles tun zu können, ist für die Jugendliche vor allem eins: sterbenslangweilig, einsam und unbedeutend. Das Verhältnis zu ihrer Mutter gestört und wenig liebevoll, ganz zu schweigen von den nervigen Beziehungsdramen, die sich ein ums andere Mal wiederholen. Dann lieber irgendwo mit ihrer Freundin und den Jungs abhängen, die sie eigentlich auch nur treffen, weil Lea mit einem von ihnen auch mal belanglosen Sex auf der Autorückbank hat. Die 17-Jährige wirkt oft wie gefangen in ihrer Unsicherheit, ihrem Schweigen, unter dem sich der Wunsch nach mehr versteckt.

Schon das erste Aufeinandertreffen mit Tom im Diner lässt einen deshalb in gewisser Weise erschaudern. Ein unscheinbares Augenzwinkern, das nur für Lea und uns sichtbar ist, forciert zwei ganz gegensätzliche Reaktionen. Für die Jugendliche eröffnet sich eine völlig neue Welt. „Sie hätte niemals gedacht, das jemand wie er auf sie stehen würde“, wird sie später verlegen, aber auch geschmeichelt und mit Bewunderung für den doppelt so alten Mann zugeben. Die kühle, beherrschte und gleichzeitig sanfte Aura, die Tom umgibt, lässt für uns hingegen schon alle Alarmglocken läuten. Die Regisseurin macht hier kein großes Geheimnis daraus, das der Mann ein stiller, gewissenhafter Jäger ist, der genau weiß, wie er mit Lea umgehen muss, damit sie ihm vertraut, ihm erliegt. Er stellt bei ihren Treffen die richtigen Fragen, lotete vorsichtig ihre Schwachstellen aus und gibt ihr zunächst noch das Gefühl, dass sie in dem Verhältnis die Kontrolle über alles hat und er nichts tut ohne ihr Einverständnis. Jonathan Tucker füllt dabei seine Rolle mit Gänsehaut einjagender Brillanz aus. Newcomerin Lily McInerny hingegen zeigt uns beeindruckend, wie ihre Figur mit ihm förmlich aufblüht, an Selbstbewusstsein gewinnt, aber auch Zweifel wegwischt und Warnsignale ignoriert. Etwa das Toms Bleibe dann doch nur ein billiges Motelzimmer ist (er sei gerade zwischen zwei Jobs und auf der Suche nach etwas Besserem) oder die Kellnerin im Restaurant ihr zutiefst besorgt anbietet Hilfe zu rufen – schließlich habe sie den Mann schon öfter mit Mädchen hierherkommen sehen.

Der grandios fesselnden und nachdrücklichen Regiearbeit von Jamie Dack ist es zu verdanken, dass wir nicht nur distanzierte Beobachter sondern unmittelbare, nahezu voyeuristische Zeugen von Gewalt werden. Und das emotional wie körperlich. Denn der (wenn auch absehbare) Höhepunkt wird ein sichtlich klein wirkendes gefangenes Opfer im Hotelzimmer bebildern. Begleitet von unfassbarer Ruhe und Bewegungslosigkeit wird der Moment eine immense Kraft entwickeln, wie man es zuletzt in „Niemals selten manchmal immer“ erleben durfte. Und auch hier später eine Träne mehr erzählt als tausend Worte.

FAZIT

Mit herausragenden Schauspielern und ausdrucksstarker Regie zeichnet „Palm Trees and Power Lines“ ein erdrückendes wie berührendes Bild von Verletzlichkeit und emotionaler Ausbeutung, die aus Einsamkeit und Unsicherheit heraus entstehen kann. Ein markerschütterndes Drama, das ans Herz und unter die Haut geht.

BEWERTUNG

Bewertung: 9 von 10.

(85/100)

Bilder: (c) Film Constellation