Was tun, wenn man stirbt? Eine nüchterne Frage, auf die Hélène Antworten sucht, die ihr niemand geben kann. Auch nicht sie selbst, obwohl ihr der Tod unweigerlich näher kommt. Die in Berlin geborene Regisseurin mit iranisch-französischen Wurzeln Emily Atef („3 Tage in Quiberon“, „Töte mich“) begleitet nicht das erste Mal Frauen in Ausnahmesituationen. Inmitten emotionaler Turbulenzen beginnen diese die Entscheidungsgewalt über ihr Leben zurückzuerlangen und ihr Schicksal in die Hand zu nehmen. Die Endlichkeit des Seins und der damit verbundene, manchmal widersprüchlich erscheinende Lebenshunger sind häufiger Begleiter in den Geschichten ihrer Protagonistinnen. Das leise und langsam erzählte Drama „Mehr denn je“, das in der Sektion „Un Certain Regard“ von Cannes Premiere feierte, konfrontiert ein langjähriges Paar und ihre innige Liebe mit neuer Selbstbestimmung und der Frage, wie egoistisch darf Sterben sein?

von Madeleine Eger

Idiopathische Lungenfibrose. Eine seltene, aber unheilbare Erkrankung, die das Leben von Hélène (Vicky Krieps) gewaltig verändert hat. Zusehends einschränkt, erscheint eine möglicherweise lebensverlängernde Lungentransplantation die einzig richtige Lösung. Während ihr Ehemann Mathieu (der verstorbene Gaspard Ulliel in seiner letzten Rolle) seine ganze Hoffnung in diese Operation legt, wachsen bei Hélène die Vorbehalte. Zwei unterschiedliche Ansichten, wie die Ausnahmesituation zu meistern sei, treibt das Paar immer öfter auseinander. Und auch mit Freunden und Familie fühlt sich Hélène nicht mehr ganz so wohl. Zu viel Mitleid, zu viel Vorsicht, zu viel versteckte Trauer. Die Krankheit raubt ihr nicht nur die körperlichen, sondern auch die seelischen Kräfte. Verständnis für ihre Situation erhofft sie sich im Internet und stößt bei ihrer Suche auf den Blog des Norwegers Bent (Bjørn Floberg). Dieser schildert mit Bildern und kurzen Schlagwörtern seinen Kampf gegen den Krebs. Für Hélène steht plötzlich fest, sie muss raus. Raus nach Norwegen und diesen Mann, der Ähnliches durchmachte, kennenlernen. Und das ganz ohne Mathieu. Aufgebrochen in der Annahme einen Leidensgenossen zu finden, findet sie jedoch vor allem zu sich selbst und trifft eine zukunftsweisende Entscheidung …

Plötzlich weicht die Szenerie der eigenen Wohnung dem tosenden offenen Meer. Luftblasen tanzen brodelnd in den Wellen. Die Oberfläche wird für ruhige, jedoch rasselnde Luftzüge durchbrochen und kreischende Möwen begleiten die Fantasie von Hélène. Eingeflochten in die Geschichte avanciert diese Fantasie zum Leitmotiv von „Mehr denn je“. Denn am liebsten würde Hélène wohl abtauchen. Irgendwie wieder Leichtigkeit und Freiheit spüren. Sich treiben lassen im alltäglichen Leben, in dem der Blick in den Spiegel nicht den Körper zeigt, der nicht mehr der ihre ist. Die Zerrissenheit, Frustration und Ungewissheit verkörpert Vicky Krieps dabei mit empfindsamer Nähe. Lässt uns spüren, dass niemand weiß, wie man sich verhalten soll. Nicht einmal sie selbst, wenn das unterdrückte Mitleid der anderen zur Last wird. Dabei verrät ein anfänglich fröhliches Treffen unser gesellschaftliches Unvermögen, den Sterbenden adäquat begegnen zu können. Versucht positive Phrasen und betretene wie ausweichende Blicke und Gespräche überschatten das Zusammensein kontinuierlich. Die kranke Frau fühlt sie sich so nicht nur von ihren Freunden, sondern auch von ihrem Mann unverstanden, mit dem sie sonst eine sehr liebevolle, vertraute und rücksichtsvolle Ehe führt. Auch wenn die Krankheit die Beziehung in ihren Fängen hält, Regisseurin Emily Atef inszeniert das Paar immer wieder mit sinnlich zärtlichen und einfühlsamen Szenen, in denen für einen kurzen Augenblick das vorherrschende kühle Grau, wohlwollendem Licht und Wärme weicht.

Zwischen Vicky Krieps und Gaspard Ulliel existiert dabei eine unglaublich mitreißende Chemie und das Schauspielpaar kann selbst in den leisesten Momenten ihren Charakteren eine facettenreiche Tiefe verleihen. Etwa wenn Hélène versucht mit Mathieu zu schlafen, ihr Körper dies jedoch verhindert und das bisschen fragile Glück von Enttäuschung verzehrt wird. Es sind sanfte Bilder, in denen Blicke und Berührungen so viel mehr aussagen, als es die wenigen bedachten Dialogzeilen oder die bewusst zurückhaltende musikalische Begleitung je könnten. Auch als Hélène ihrem Mann ihre Zukunftspläne offenbart, spielen sich in den Gesichtern der beiden Hauptdarsteller ganze Geschichten ab. Zeigen gekonnt die Kontraste der Gefühle, mit denen sich ihre Figuren auseinandersetzten müssen.

Ohne dabei ins Melodramatische abzurutschen, bietet „Mehr denn je“ einige dieser emotionalen Konfrontationen. Insbesondere als sich das Geschehen in den kühlen Fjord Norwegens verlagert und Hélène merkt, dass die Ruhe, der unerhofft andersartige Bent und die Entromantisierung eines Verlangens einen ganz anderen Effekt auf sie ausüben, als sie es erwartet hat. Atef zeichnet hier einen anstrengenden, herausfordernden Weg einer zunächst noch unsicheren Frau, die Grenzen testet und nun ohne Rücksicht zu nehmen Entscheidungen für sich treffen muss. Wenn es am Ende von „Mehr denn je“ etwas zu bemängeln gibt, dann am ehesten die sehr zurückhaltende und bisweilen etwas zu langsame Erzählweise. Allein wegen der schauspielerischen Leistungen, die die Regisseurin ihrer Darsteller hier entlockt, ist das Drama allerdings mehr als lohnenswert.

Fazit

In „Mehr denn je“ ist der größte Liebesbeweis nicht, jemanden bis zu seinem letzten Atemzug zu begleiten, sondern die Freiheit zu schenken. Krieps und Ulliel sind unfassbar intensiv und die Geschichte ein feinfühliges Juwel über Liebe, Sehnsucht und Aufbruch im Angesicht des Sterbens.

Bewertung

Bewertung: 7 von 10.

(84/100)

Ab 24.11. im Rahmen der Französischen Filmwoche in Berlin zu sehen, ab 1.12. regulär im Kino.

Bild: (c) Pandora Film